„Bildung.anders.machen.“ ist das Motto und das große Ziel der Tage der Bildungsalternativen vom 14.-16. Oktober in München. Wie die Idee zum Vorhaben entstand, welche Kritik sie am aktuellen Bildungssystem üben und wie ihre Visionen für die Bildung von Morgen aussehen, darüber sprechen im Interview stellvertretend fünf Bildungs-Aktivist*innen aus dem Organisationskreis: Asya Unger (hauptberuflich tätig für das Referat für Bildung und Sport der Landeshauptstadt München), Steffi Kreuzinger vom Ökoprojekt MobilSpiel e.V., Modupe Laja vom Netzwerk Rassismus- und Diskriminierungsfreies Bayern e.V., Stephanie Weigl von Greenpeace Deutschland, Vanessa Mantini von Green City e.V. und Kai Schäfer vom Nord Süd Forum e.V.
1) Wer seid Ihr, die Organisator*innen von Bildung.anders.machen.?
Asya: Wir sind ein freier Zusammenschluss von Menschen und Organisationen, die sich haupt- oder ehrenamtlich im Bildungsbereich engagieren. Bei uns sind sowohl große Organisationen vertreten als auch Privatpersonen. Aber alle haben das gleiche Mitspracherecht. Die meisten engagieren sich in ihrer Freizeit bzw. deutlich über ihre reguläre Arbeitszeit hinaus für Bildung.anders.machen.
Kai: Eine große Stärke von uns ist unsere Vielfalt, weil wir aus ganz unterschiedlichen Bildungsbereichen kommen, Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung, schulische und außerschulische Bildungsarbeit, Umweltbildung, globales Lernen, rassismuskritische und postkoloniale Bildungsarbeit.
Steffi: Das Besondere an unserer Zusammenarbeit ist für mich der neugierige und wertschätzende Blick auf unsere unterschiedlichen Zugänge, sei es beispielsweise aus der Perspektive der Bildung für nachhaltige Entwicklung oder der rassismuskritischen Bildungsarbeit. Und das gemeinsame Ziel, Bildung anders, menschenfreundlicher und zukunftsfähiger zu gestalten.
Modupe: In den Bildungskontexten, in denen ich in unterschiedlichen Organisationen eingebunden bin, wird allmählich versucht, einen machtkritischen Blick auf Bildung zu sensibilisieren. Bildung kann Entfaltung bei Menschen bereits im jungen Alter fördern. Aber sie kann in der Praxis auch Ungleichheiten zementieren. Da ist Einiges im institutionellen Kontext verbesserungswürdig. Es gibt mittlerweile außerinstitutionelle Initiativen, die transformative Konzepte vorleben.
2) Was treibt euch in Eurer täglichen Arbeit an?
Asya: Vor allem die tollen Menschen, die an diesem Prozess beteiligt sind. Auch wenn es oft anstrengend und viel ist, macht es Freude, sich zu treffen, zu diskutieren und kleine Erfolge zu feiern. Und natürlich, dass sich in unserem Bildungssystem etwas ändern muss.
Kai: Die Hoffnung, dass wir gemeinsam etwas zum Guten verändern. Wir erleben an so vielen Stellen, dass wirtschaftliche Interessen immer an erster Stelle stehen, aber wenn es um eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen geht, darf Bildung nicht zuerst der Verwertungslogik des Marktes verpflichtet sein.
Stephanie: Wir stehen vor entscheidenden gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen – und Bildung ist der Schlüssel, diese zu meistern! Daran mitzuwirken, gemeinsam mit jungen Menschen das „Bildungs-Sprungbrett“ für die Zukunft zu bauen, ist ebenso inspirierend wie sinnstiftend.
Modupe: Wir lernen alle voneinander: Sichtweisen auf bestimmte Bildungsinhalte und Methoden können sehr unterschiedlich sein. Lernen ist lebenslanges „Sich-selbst-bilden“. So schärfen wir auch unseren Blick auf strukturelle Herausforderungen in der Bildung. Das bedeutet, die Bildungswelt mal aus einer ganz anderen Perspektive betrachten zu können, sozusagen „Out-of-the-Box“, was auch zum Umdenken anregt.
3) Wie entstand die Idee zu „Bildung.anders.machen. – den Tagen der Bildungsalternativen“?
Asya: Inspiriert vom Kongress Bildung.Macht.Zukunft in Kassel, auf dem einige von uns waren, ist die Idee zu den Tagen der Bildungsalternativen auf einem Seminar zu transformativer Bildung im schönen Schlehdorf entstanden. Anschließend haben wir sie Schritt für Schritt weiterentwickelt.
Steffi: Die Idee, dass wir gemeinsam Tage der Bildungsalternativen auf die Beine stellen wollen, hat uns seit unseren ersten Ideen nach Kassel und Schlehdorf angetrieben und immer wieder motiviert, dranzubleiben. Wichtig ist dabei auch von Anfang an die Erfahrung gewesen, dass Bildung.anders.machen. viele Bildungsakteur*innen in München umtreibt, motiviert und zusammenbringt, und wir so den gemeinsamen Prozess sehr partizipativ gestalten.
Modupe: Mich hat neugierig gemacht, was Bildung ermöglichen und verändern kann in einem Raum, den wir gemeinsam denken und gestalten. Welche Perspektiven scheinen durch, wie setzen wir etwas um, was macht in Bezug auf Bildung das „Andersmachen“ aus? Da ist der Weg zur Konferenz bereits ein eigener Lernprozess.
4) Was läuft Eurer Meinung nach im Moment in der Bildung weniger gut und was müsste sich ändern?
Kai: Eigentlich hat sich an unserem Bildungssystem seit dem 19. Jahrhundert nichts geändert: Die Idee ist immer noch, dass die Lehrenden über das „richtige Wissen“ verfügen und den unwissenden Lernenden das Wissen „nur“ durch passende Methoden vermittelt werden muss. Damit werden die Lernenden zu Objekten im Lernprozess degradiert, die lediglich die Illusion haben, selbst zu handeln.
Stephanie: Bildung muss in Relevanz zu den gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen stehen, die vor uns liegen. Die heutigen Bildungs-Herausforderungen müssen einem globalen, interdisziplinären und ethischen Blick standhalten. Bildung umfasst nicht nur Wissen und Können, sondern ebenso Herz, Charakter und Haltung. Und diese Bildung kann nur auf Augenhöhe stattfinden, sie muss Gestaltungs- und Selbstwirksamkeitsräume ermöglichen. Die alten Blaupausen reichen nicht mehr aus, um die junge Generation auf die Zukunft vorzubereiten. Wir müssen Bildung neu denken – zusammen!
Modupe: Bildungszugänge sind noch sehr herkunftsabhängig. Studien belegen, dass bestimmte Gruppen von Kindern oder Erwachsenen im deutschen Bildungssystem weniger Möglichkeiten haben, ein Bildungsziel zu erreichen, als andere. Lehrende in Deutschland neigen viel eher dazu, ein Kind für das Gymnasium zu empfehlen, wenn es aus einer höheren sozialen und ökonomischen Schicht kommt. Und dann natürlich die Frage, wird Bildungsgerechtigkeit durch ein dreiförmiges Schulsystem gefördert oder eher verhindert? Bildungswege für Kinder aus bestimmten Herkunftsfamilien sind zum Beispiel ungleich schwerer. Die Ergebnisse einer erst vor kurzem veröffentlichten Studie über Diskriminierungserfahrungen von Rom*nja und Sinti*ze zeigen, dass 60 Prozent der Befragten die Schule als Ort von Diskriminierung und Rassismus erfahren. Was Bildungsinhalte betrifft, ist es an der Zeit, dass sich die Diversität unserer Gesellschaft mehr darin widerspiegelt. Da stellt sich auch die Frage, was gelehrt und welches Wissen marginalisiert wird und welche Inhalte der Bildungskanon der Schulsysteme mitberücksichtigen sollte. Da muss Einiges ins institutionelle Bewusstsein sickern, um sich zu verändern.
Vanessa: Unser Bildungssystem ist veraltet – und das hat nicht erst die Pandemie gezeigt. Gerade Menschen die (noch) keine Stimme haben, leiden darunter: Kinder, Jugendliche, Menschen mit Migrationsbiographie, aber auch ältere Menschen. Beispielsweise weil sie kein Wahlrecht haben oder weil sie am Rande der Gesellschaft stehen. Das ist ein Armutszeugnis! Eine Veränderung ist überfällig. Zudem gibt es gute Beispiele, wie es besser laufen könnte. Deutschland muss nicht bei Null anfangen. „Leave no one behind“, ein Kern der Agenda 2030, bringt es auf den Punkt: Dieser Claim muss mit Leben gefüllt werden – jetzt!
5) Könnt Ihre Eure Vision der Bildung der Zukunft beschreiben?
Kai: Ich denke, das ist auch eine sehr persönliche Frage: Für mich ist die Bildung der Zukunft eine Bildung für die Zukunft, eine Bildung in der die Menschen im Mittelpunkt stehen, die den Menschenrechten und der weltweiten Solidarität verpflichtet ist und den Schutz unserer globalen Umwelt als unabdingbare Voraussetzung gesellschaftlichen Handels anerkennt.
Modupe: Mehr Gerechtigkeit im Bildungssystem und die Bereitschaft anzuerkennen, dass Bildung das große Potenzial hat, uns miteinander zu verbinden, wenn sie mehrdimensionaler, mehrperspektivischer gedacht und praktiziert wird. Das Verständnis füreinander wächst, wenn wir im Bildungskontext mehr voneinander erfahren. Ich frage mich manchmal, warum wir wenig Geschichte(n) über Menschen wissen, deren Familien hier vor Generationen eingewandert sind und seit langem zu unserer Gesellschaft gehören.
Vanessa: Bildung der Zukunft wird nicht für, sondern mit Menschen gemacht. Bildung für Zukunft bzw. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) birgt das Potential, uns resilienter für Herausforderungen unterschiedlicher Art zu machen. Es geht weniger um das WAS, als um das WIE. Dabei spielt die Haltung eine entscheidende Rolle: Wertschätzender Umgang miteinander, Stärken, Fähigkeiten und der Persönlichkeit Raum geben, auch voneinander lernen – ein gegenseitiges aufeinander Einlassen. Die Entfaltung und das Erleben von Selbstwirksamkeit stärkt Menschen, macht sie handlungsfähig, motiviert und kann Veränderungen anstoßen.
6) Was ist das konkrete Ziel der Veranstaltung?
Asya: einen Diskussionsprozess und Vernetzung zwischen verschiedenen Bildungsakteur*innen anzuregen, konkrete Alternativen aufzuzeigen und diese öffentlich wirksam auch an die Entscheider*innen zu kommunizieren.
Kai: Begegnung und den Blick über den eigenen Tellerrand ermöglichen, ein Gefühl der Stärke und eine echte Bereitschaft zur Veränderung entwickeln, Bildungspolitik von den Betroffenen – Lehrenden wie Lernenden – her denken.
Stephanie: Von dieser Veranstaltung, den Diskussions-, Reflexions- und Vernetzungsprozessen soll ein Ruck ausgehen, der in Politik und Gesellschaft hineinwirkt. Und sie soll Bildungsakteur*innen – in der Schule wie außerhalb – Mut machen, Bildung nicht nur anders zu denken, sondern die Ärmel hochzukrempeln und anzufangen, die eigene Bildungsarbeit anders zu machen.
Modupe: Kritische Meinungsbildungs- und Debattenprozesse, egal zu welchen Themen, bedeuten einen wesentlichen Teil unseres gesellschaftlichen Bildungsauftrags, auch um demokratische Werte zu schützen. Demokratiegefährdende Einstellungen sind nach der aktuellen „Mitte-Studie 2020/2021 – Die geforderte Mitte“ von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Universität Bielefeld immer noch sehr präsent. Ich glaube fest daran, dass so eine bildungspolitische Veranstaltung einen Bündnischarakter hat, der uns miteinander verbindet und immer wieder neue Handlungsoptionen eröffnet.
7) Wie soll es danach mit Bildung.anders.machen. weitergehen?
Asya: Während des doch recht langen Entstehungsprozesses sind neue Netzwerke und sehr gute und vertrauensvolle Kooperationen entstanden. Diese wollen wir auf jeden Fall weiter pflegen und auch für andere Projekte nutzen. Wenn die Veranstaltung ein Erfolg wird, können wir uns eine Wiederholung vielleicht im übernächsten Jahr gut vorstellen.
Modupe: Meine große Hoffnung ist, dass ein wandelndes Bewusstsein für Bildungsdefizite und sich daraus ergebende Herausforderungen zu neuen Denkmodellen führt, die wir in der Bildungspraxis verinnerlichen und mitdenken.
Vanessa: Bildung.anders.machen. ist erst der Anfang. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich alle beteiligten Akteur*innen bereits seit vielen Jahren für eine Transformation im Bildungssystem einsetzen. Mit diesem Schulterschluss bündeln wir unsere Kompetenzen, verstärken aber auch den Druck: Eine zeitgemäße Bildung darf nicht veralteten Konzepten folgen. Ich sehe die Tage der Bildungsalternativen als Start, Veränderungen Raum zu geben, aber auch nachdrücklich einzufordern. Also kein „Weiter-wie-bisher“, sondern der Anfang einer Bewegung hin zu einer gerechten, inklusiven und partizipativen Bildung.